| Kategorie: Kinderphysiotherapie

Aufgrund der hohen Anzahl an Klicks zu unserem Beitrag vom Oktober 2013 „Babys sind Traglinge“ erklären wir Ihnen im Anhang die Wichtigkeit des Tragens von Säuglingen und Babys aus evolutionsbiologischer Sicht:

Lange gingen Forscher davon aus, das der menschliche Säugling zu den sogenannten Nesthockern gehört. Denn Babys würden erst etwa ein Jahr nach der Geburt frei auf zwei Beinen gehen können, lange Zeit nicht imstande sein, sich selbständig Nahrung zu beschaffen und zuzuführen und außerdem Jahre brauchen, bis sie sich ohne Fremdhilfe mit der Umwelt erfolgreich auseinandersetzen können. Die Annahme ist allerdings falsch, da dem Neugeborenen die typischen Kennzeichen des Nesthockers fehlen: die geschlossenen Augenlider und Gehörgänge zum Beispiel ( im Gegensatz zu neugeborenen Hunden und Katzen, die zu den Nesthockern zählen).  Vielmehr wird das Nesthockerstadium im Mutterleib absolviert: im 3.-5. Embryonalmonat sind die Augenlider geschlossen und öffnen sich dann aber schon im Mutterleib!

Auch ein Nestflüchter, sozusagen das Gegenteil eines Nesthockers, ist der menschliche Säugling nicht, da beim Nestflüchter die Beine vor der Geburt verhältnismäßig schnell wachsen, beim Menschen hingegen recht langsam.

Biologisch gesehen ist der Mensch ein Tragling! Dafür spricht vor allem der Handgreifreflex, der dem neugeborenen Säugling trotz noch unentwickelter Motorik erlaubt, sich sozusagen aus eigener Kraft einige Sekunden freischwebend festzuhalten. Eine solche Fähigkeit ist typisch für Tierjunge, die sich an der Mutter festklammern (Affen, Menschenaffen, Fledermäuse, baumkletternde Beuteltiere).

Die Traglingsnatur des Säuglings bestätigen auch anatomische Hinweise: in Rückenlage sind Hüft- und Kniegelenke gebeugt, die Hüften locker gespreizt, die Fußsohlen sind einander zugewandt, mitunter sich berührend. Ab etwa dem dritten Lebensmonat nimmt der Säugling die Haltung ein, die kennzeichnend für Traglingsjunge ist, die sich mit Händen und Füßen an der Mutter festklammern. Da sich der Säugling im Gegensatz zu Tierjungen aber auf Dauer nicht festhalten kann, ist der Greifreflex als ein Rudiment aus Urzeiten anzusehen. Die beschriebene Traglingshaltung weicht etwa ab dem dritten Schwangerschaftsdrittel einer zunehmenden Streckung der Extremitäten als Voraussetzung für die Aufrichtung zum Stand und freien Gehen.

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Tragetücher für Säuglinge und Babys halten das Kind in dieser Traglingsposition sicher am Körper der Mutter/ Vaters und finden Ihre Vorbilder in vielen Naturvölkern. Der enge Körperkontakt und die Bewegungen des elterlichen Körpers stellen eine nicht zu unterschätzenden Reiz für die Ausbildung der Sensorik und damit für die Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung dar.

Hassenstein schreibt in seinem Buch „Verhaltensbiologie des Kindes“ (2001) dazu eindrucksvoll:

„Bewegtwerden heißt, nicht verlassen zu sein. Rhythmisches Bewegen des Säuglings kann Unruhe oder Weinen vermindern oder gar beschwichtigen. Dies hängt allem Anschein nach damit zusammen, das das Bewegtwerden zur Normalsituation des Trainings gehört, der von seiner Mutter, während sie sich fortbewegt, mit sich getragen wird. …Bewegtwerden ist ein Anwesenheitszeichen seitens des betreuenden Erwachsenen. ….Hierzu passt auch eine Beobachtung an Säuglingen, die von ihren Müttern, während sie körperlich arbeiten, auf dem Rücken getragen werden: sie weinen nicht, auch wenn sie durch die körperliche Arbeit der Mutter heftigsten Bewegungen ausgesetzt sind, ja sie wachen davon nicht einmal auf.

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Die Verwendung eines Tragetuchs für Babys und Säuglinge ist aus verschiedenen, oben genannten Gründen, eine vernünftige Maßnahme und sollte nicht als Modeerscheinung abgetan werden. Befürchtungen, die Trageposition schade der kindlichen Wirbelsäule, haben sich als reine Spekulation erwiesen und halten der kritischen Überprüfung nicht stand. Im Gegenteil: Tragen beugt der Plagiozephalie vor. Dies ist eine asymmetrische Abflachung des Hinterkopfs, welche unter anderem durch langes Liegen auf dem Rücken entsteht.

Unsere Therapeuten beraten junge Eltern gerne rund um das Thema Tragen.

 

 

Die fachlichen Inhalte wurden dem Buch „Manuelle Medizin bei Kindern und Säuglingen“ von Wilfried Coenen (Springer Verlag 2010) entnommen.